UA, Sensemble Theater Augsburg, 12. Januar 2013, 1 H 1 F

Rechte: Theaterverlag Hofmann-Paul, Berlin

An Annabelles siebten Geburtstag stürmt es in der Familie gewaltig. Ihre Mutter gerät außer Rand und Band, weil Annabelle nicht mehr in die Schule gehen möchte. Aufgebracht platzt die Karrierefrau mitten in den Unterricht der Klasse 2b, um Annabelles Lehrer mit Mobbingvorwürfen zu konfrontieren. Dieser weist sie freundlich aus dem Klassenzimmer, doch als die Mutter fremdenfeindliche Stammtischparolen von sich gibt und die Schüler aufgrund ihrer Herkunft und Religion angreift, verliert auch der Lehrer die Geduld. In einer Diskussion um Verhalten, Moral und Werte führen die beiden ein völlig irrationales Streitgespräch, in dem das katholisch-konservative Klischeedenken der Mutter und das sozialistisch-atheistische Weltsicht des Lehrers aufeinanderprallen.

Die Kinder spielen in diesem Wortgefecht nur eine vordergündige Rolle – Annabelle sitzt ohnehin noch im Auto vor der Schule und die Klasse ist vor Entsetzen verstummt. Stattdessen erweist sich die Sorge um das Wohlergehen des Kindes als Projektionsfläche persönlicher Frustrationen. Nach und nach drängen sich die persönlichen Schwachstellen der Protragonisten an die Oberfläche: die Mutter, von ihrem Ehemann – ein Ausländer! – betrogen und von ihrer Doppelrolle als nunmehr Alleinerziehende und Karrierefrau überfordet; der Lehrer, ein Sozialist, der seine Ansichten im vermeintlich ideologiefreien Raum Schule zurückhalten muss.

Es sind letzten Endes die Kinder, die einen Weg aus der Verbohrtheit der Erwachsenen bereiten, indem sie ein Geburtstagslied für Annabelle singen: Heute kann es regnen …

Eine kabarettartige Schulstunde für Eltern, in der der Wahrheitsanspruch ideologischen Denkens hinterfragt wird. In der gegenwärtigen Diskussion um Integrations- und Bildungspolitik könnte das Stück aktueller nicht sein.

Inszenierungen:

  • Sensemble Theater Augsburg, 2013
  • Sensemble Theater Augsburg, 2019
  • Neues Theater Burgau, 2020

Günzburger Zeitung, 17.02.2020

Beim Stück „Annabelle“ des Neuen Theaters Burgau geraten eine resolute Mutter und ein atheistischer Lehrer aneinander.

Das Publikum spielt mit im Stück „Annabelle“ des Neuen Theaters Burgau. Am Freitag wurde Premiere gefeiert. Die Zuschauer übernehmen die Rolle der Klasse 2B in einer Grundschule irgendwo in Bayern. Dort platzt Frau Doktor Scherkampf (Vera Hupfauer) in den Unterricht, weil sich ihre Tochter Annabelle weigert, in die Schule zu gehen.

Sie werde von ihren Mitschülern belästigt, so der Vorwurf. Doch Lehrer Herr Mielke (Florian Fisch) macht der Störenfriedin klar, dass sich Annabelle durch ihr Verhalten keine Freunde mache. Denn sie übernimmt von ihrer Mutter die diskriminierenden Sprüche gegenüber jüdischen und muslimischen Mitschülern.

Religiöser Fanatismus

Aber so schnell gibt die Tigermama Scherkampf nicht auf. So entstehen weitere verbale und körperliche Auseinandersetzungen zwischen der Frau, deren katholische Lebenseinstellung an religiösen Fanatismus grenzt, und dem Lehrer, einem überzeugten Marxisten. So geht sie zum Beispiel in die Zuschauerreihen, um einige „Schüler“ direkt anzusprechen, wer hinter den Attacken auf ihre Tochter stecke. Der Lehrer zieht sie wieder raus. „Schmeiß doch die Alte raus!“, ruft einer der „Schüler“ im Publikum dem Lehrer zu. Dieser entgegnet: „Kinder, mischt euch nicht ein!“. (Sonst würde aber auch das Stück nicht weitergehen.)

Während des Stückes bröckeln auch die Fassaden. Einmal kommt es bei der resoluten Mutter zu einem weinenden Zusammenbruch. Ehrlich mitgenommen erzählt sie von den Panikattacken ihrer Tochter. Außerdem bereut die geschiedene Frau, dass sie aufgrund ihrer zahlreichen Geschäftstermine im In-und Ausland immer Leute für die Beaufsichtigung ihrer Tochter bezahlen muss.

Eine Ohrfeige normalisiert die Situation

Der Lehrer versucht die meiste Zeit über, eine kontrollierte Fassade aufrechtzuerhalten. Aber als die Mutter den Raum verlässt, um nach der Tochter im Auto zu sehen, hält er den Schülern in aggressivem Ton eine flammende Rede darüber, warum Religion nach Karl Marx Opium für das Volk sei. Er selbst lobt dabei seine atheistische Erziehung in der ehemaligen DDR. Am Ende des Stückes normalisiert eine Ohrfeige die Situation.

Das Publikum spendet den Schauspielern tosenden Applaus. Außerdem durften die Regisseurin Gianna Formicone sowie Sebastian Seidel, der zusammen mit Christian Krug das Stück schrieb, für die Ovationen danken. Der Autor fand die Darstellung des Burgauer Ensembles sehr intensiv. Die Streitsituation habe sich eindrucksvoll gesteigert, so Seidel.